Das ganze verkehrte Wesen

Das ganze verkehrte Wesen

 

Ein weiterer warmer Novembertag in diesem zu kalt geratenen Frühling. Menschenleere Straßen in meinem Wohnviertel, ein trostloses Kinderfest, das in der Planung sicherlich Sonnenschein verdient hatte und vergessene Gefühle, die sich neben der kriechenden Kälte bemerkbar machen wollen. Sie wählen den ihnen in langen Jahren der Sozialisation und Selbstdisziplinierung aufgezwungenen Weg und mein Verstand beginnt mir Streiche zu spielen. O Einsamkeit, du oft besungene! Egal wie oft ich versuche diese neuerliche poetische Regung, deren Sackgasse mir sogleich offenbar wird, zu unterdrücken: O Einsamkeit, du oft besungene!

Da liegen Blätter aus dem letzten Herbst im noch blattlosen Gebüsch am Wegesrand. Das Leben im Laub, o Einsamkeit! Da liegen diese Blätter und hier gehe ich. Dort mündet die Straße, in der ich wohne, in diese Straße, die ich gerade entlang gehe. Einmal noch links und ich bin fast an der Haustür. Durch die Haustür hindurch, zwei Treppen hinauf: Wohnungstür. Durch die Wohnungstür, den Jutebeutel ablegen, sich der Schuhe entledigen, das Jackett an die Garderobe hängen, den Jutebeutel aufheben, in die Küche gehen, die Einkäufe aus dem Jutebeutel nehmen, an ihren verschiedenen Orten verstauen, die Küche verlassen. O Einsamkeit. Die Küche verlassen, ins Arbeitszimmer gehen, nein, ins Wohnzimmer gehen, auf das Sofa legen, die Augen schließen und vergessen. Einnicken, aufwachen, neu sein. Du oft besungene. Auch Sackgassen führen weiter, ja, schon, aber nur in die nächste. Warum Mühsal um seiner selbst Willen, wenn es so viele andere Dinge gibt, die man aus diesem Grunde anfangen könnte? Nichts zum Beispiel. Wäre auch ein Grund dafür, ja. O Einsamkeit, du oft besungene, / bist du nicht schon / überwunden / beim ersten Klang, / beim ersten Seufzen, / mit dem dein Schöpfer / euch erzeugt?

 

Fünfzig Meter. Vierzig Meter. Zwanzig Meter, Beschleunigung, der Schlüssel – der Schlüssel? Entschleunigung. Der Schlüssel. Der Schlüssel, der Schlüssel. Dann fliegt von Einem geheimen. Dann fliegt, dann fliegt, ja, ja. Es fliegt von jedem verdammten Wort die Verlässlichkeit von dir fort. Und wenn man genauer darüber nachdenkt, dürfte es sich auch ganz ohne „tiefere Einsichten“ verstehen, dass Sprachakrobatik den Gelenken, Bändern und Knochen schadet wie jeder andere Leistungssport und das alltägliche Sprechen wie das Leben an sich.

 

Die Wohnungstür. Durch die Wohnungstür, den Jutebeutel abgelegt, der Schuhe entledigt, das Jackett an die Garderobe gehängt, den Jutebeutel aufgehoben, in die Küche gegangen, die Einkäufe aus dem Jutebeutel genommen, an ihren verschiedenen Orten verstaut, die Küche verlassen, ins Arbeitszimmer gegangen, nicht widerstanden, mit den Augen an die weiße Wand geklebt, die letzten fünf Minuten überdehnt.

 

Hörst du / die Stille? / Und hört sie / dich nicht? Ich höre die Stille und sie, sie hört mich. Wir alle sind hörig, so hörte ich. Gehörig alleine und einsam doch nicht. O hörst du? / Ja, hörst du denn mich? Ich höre, gehöre, bin hörig, bin nichts.

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