Warum ich keine Gedichte mehr schreibe oder: Die Langeweile der Möglichkeit

Warum ich keine Gedichte mehr schreibe oder: Die Langeweile der Möglichkeit
 

Als hoffnungsfroher junger Mann, der ich in den Augen mancher (alternde Gesellschaft!) vielleicht sogar noch sein mag, schrieb ich eine ganz ansehnliche Zahl von Gedichten. Ich möchte behaupten, dass diese auch von einer Qualität waren, die Liebhaber zu schätzen gewusst hätten. Diese Liebhaber habe ich mit meinen Gedichten jedoch nie erreicht, mich darum auch nicht sonderlich bemüht, wie ich gestehen muss – war ich selbst mir doch meistens Publikum genug. Warum ich letztlich aufgehört habe, Gedichte zu schreiben, ist keine einfache Frage. Es gibt nämlich keine klare Antwort darauf, wissen Sie? Es gibt da nur ein diffuses Sammelsurium an Scheinbegründungen und einen Kern, an dem wir alle tagtäglich nicht vorbei können. Um diesen Kern geht es mir.

Wenn Gott tot sei, dann sei alles erlaubt, meine ich einmal aus dem Mund Iwan Karamasows vernommen zu haben. Aus diesem Problem, das sich dem armen Iwan stellte und das uns alle noch immer beschäftigt, wenn wir ehrlich sind, entsprang auch meine Entscheidung, keine Gedichte mehr zu schreiben. Für die Ermattung meiner Feder spielte dabei aber weniger die Möglichkeit eine Rolle, was wäre, wenn Gott doch noch lebte. Nein, es ging um die Langeweile des Zustands, in dem alles erlaubt ist. Oh, was könnte man nicht alles schreiben. Noch dazu als Freizeitschriftsteller, der von dieser Tätigkeit nicht leben muss! Man könnte Formen wagen, die niemanden auch nur ästhetisch ansprechen. Oh, man könnte, man könnte. Könnte man nicht? Allein, man tut es nicht.
 

Einige Monate lang, nachdem ich diese stumpfe Langeweile in mir zuerst gefühlt hatte, war ich noch auf der Suche gewesen. Auf der Suche nach der neuen Form und dem erleuchtenden Inhalt und ihrem perfekten Zusammenspiel. Hegel zum Quadrat, sagte ich mir. Ich hatte also, Sie haben es schon erkannt, in dieser Zeit noch nicht wirklich verstanden, was die Langeweile der Möglichkeit bedeutete. Es ist das bekannte „Alles kann, nichts muss.“ Die Lyrik wurde mir ein abgedunkelter Swingerclub, in dem sich Mitvierziger mit Wohlstandsschmierbäuchen betatschen, nur um sich am nächsten Morgen zwischen acht und neun (man hat ja Gleitzeit) doch wieder auf ihrem Schreibtischstuhl um sich selbst zu drehen, damit ihnen mal wieder schwindelig wird. Gesteigert wurde mein Problem noch dadurch, dass mir – einem Standardwert meines Charakters gleich – ohnehin immer schlecht war und ich im nächsten Moment dennoch einfach entscheiden konnte, dass es mir gut gehe. Wohin dann also? Wohin mit mir? Wohin mit meinem Talent, für das ich mich entschied?
 

In schwachen Momenten – oder sind es die starken? – wünsche mir einen Ersatzglauben an die Verfassung, der mich lenken könnte, aber solch ein Glaube ist es nun mal, der meiner eigenen Verfassung fundamental widerspricht. Es bleibt die Pragmatik? Oh, wie öde. Das wäre ja die Selbstaufgabe im Angesicht einer neuen Ideologie des Sichanpassens. Nein, ohne mich. Doch – ich wiederhole mich – was dann? Nachdem ich von der doch nicht zu unterschätzenden Höhe des Melkschemels in meinem Arbeitszimmer mit den Bücherregalen zunächst meinen alkoholhaltigen Mageninhalt erbrochen hatte und dann gefallen war, sah ich ein Licht. Und als mir klar wurde, dass es sich um die Deckenleuchte handelte, handelte ich.

 

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