Oder: “Was bin ich?” mit Malte Laurids Brigge.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.
Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Herausgegeben und kommentiert von Manfred Engel, Stuttgart 1997, S. 8.
Und wer nach diesem sensationellen ersten Satz nicht sofort den Drang verspürt, das ganze Ding von vorne bis hinten inklusive verschiedener Fassungen zu inhalieren, dem kann ich auch nicht helfen. Versuche es aber trotzdem:
[…]
Ist es möglich, daß es Leute giebt, die ‘Gott’ sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? – Und sieh nur zwei Schulkinder: es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, – so verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt. -) Ach so: ISt es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Möglichkeit hat, – dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der Nächstbester, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht: ja er wird schreiben müssen. Das wird das Ende sein.
Ebd., S. 23-24.